Ich glaube, ich muß bei Adam und Eva anfangen. Meine Familie stammt
aus Ungarn (merkt man an meinem Namen, ne?), und meine Großeltern sind
da 1956 weg und haben ihre Kinder in Deutschland großgezogen. Ich habe
als Kind fast gar kein Ungarisch gelernt, das war Ostblock und lohnte
sich nicht so, das hatte man hinter sich gelassen. Erst 1990, da war
ich siebzehn, haben sich mein Vater und meine Großeltern da zum ersten
Mal wieder hingetraut, halbe Familie im Schlepptau. Ich auch. Wir haben
noch Verwandte in einer kleinen Stadt nicht weit von der österreichischen
Grenze. Ich habe mich da gleich total wohlgefühlt. Drei Häuser weiter
wohnte ein Mädel, Ilona, die war die beste in Deutsch in ihrer Schule und
hat sich auf uns gestürzt, um üben zu können, und an mir blieb sie
hängen. Und ich an ihr.
Den Rest kann man sich denken. Ilona und ich haben geheiratet, da war
ich 21 und sie 22, ich war gerade mit dem Bund fertig und in der
Ausbildung, sie war froh, in Deutschland weiterstudieren zu können.
Heiraten wäre in dem Alter natürlich kein Thema gewesen, aber das war das
einfachste mit ihrer Aufenthaltserlaubnis, und die einzige Möglichkeit,
wie wir zusammensein konnten. Also, große Hochzeit in Ungarn, und dann
ganz normales Leben als Studentenpaar.
Nach dem Studium hat sie Arbeit gefunden in einer Werbeagentur, und
schon nach paar Wochen war klar, daß sie absolut in ihrem Element war.
Sie ist ein Naturtalent im Organisieren und im Umgang mit Menschen, und
sie hat bald schon Kunden in Eigenregie betreut, und die wurden immer
größer, denn es waren Boom-Zeiten. Sie hat mit ihren Chefs eine gute
Provisionsregelung vereinbart und ist jobmäßig abgegangen wie eine
Rakete. Ich war mordsmäßig stolz auf sie, bin es eigentlich immer noch.
Ich bin selbst im öffentlichen Dienst, und arbeite nicht mal so sehr, um
richtig viel Geld zu scheffeln, sondern, um etwas zu verändern und
Menschen zu helfen. Klar habe ich längst nicht mehr den blauäugigen
Optimismus und Idealismus, mit dem ich meine Ausbildung angefangen habe,
aber ich bin dann am glücklichsten, wenn ich weiß, ich habe für jemanden
wirklich einen Unterschied gemacht.
Uns war beiden immer klar, daß wir Kinder wollten, und Ilona fand, es
ist sinnlos, zu warten, einen "guten Zeitpunkt" würde es eh nie geben.
Also haben wir es dann einfach drauf ankommen lassen, und im November
1998 sind unsere Zwillinge zur Welt gekommen. Wir haben kurz danach ein
Haus gekauft, Ilona hat prompt wieder zu arbeiten angefangen, weil es
sich einfach lohnte, lieber eine Haushaltshilfe zu bezahlen, die auch auf
die Kinder aufpaßt; das ist auch immer noch so. Also, Glück und Wohlstand
und fröhliche Familien.
Nur mit dem Sex, da war es aus, als die Kinder kamen. Bei der Geburt
hat es Ilona unterwärts derartig zerlegt, sie sagte, sie wüßte selbst
nicht mehr, was da jetzt was sei. Das ist wohl normal und hat sich wohl
auch schon längst wieder gegeben, aber erstmal lief gar nichts. Zumal wir
beide voll zu tun hatten und uns abgewechselt haben: eine Nacht habe ich
bei den Babies geschlafen und war zuständig, wenn was los war, eine Nacht
sie, und so weiter. Selbst, als das wieder ruhiger wurde und die Kids
anfingen durchzuschlafen, da waren wir eigentlich mehr eine Symbiose
geworden als ein Paar: gemeinsame Ziele, die Kinder, die uns beiden
wichtiger sind als alles andere, und der jeweilige Job, der jedem von uns
doch auf andere Weise ziemlich das Hirn mit Beschlag belegt. Abends
standen wir gemeinsam in der Küche, haben gekocht, und alle Probleme des
Tages beieinander abgeladen. Wirklich mehr WG als Ehe, irgendwie.
Während die Kinder größer wurden, hat Ilona immer mehr Auswärts-Termine
angenommen und hat wirklich so richtig extrem losgelegt; es war 1999 und
2000, die Branche brummte. Ich war eigentlich zufrieden mit meinem Leben
und hätte mich nicht wirklich beschwert, wenn es immer so weiter gegangen
wäre. Dann habe ich mich aber plötzlich und extrem verliebt.
Sie nennt sich Bette ("Wie Bette Davis, nicht Bette Midler!"), ist 22
Jahre älter als ich, und Malerin und Illustratorin. Witzigerweise habe ich
sie über Ilona kennengelernt, vor zwei Jahren im Sommer, auf einem großen
Grillfest von der Agentur, mit Familien, Kunden, Freelancern und so weiter.
Bette hatte für Ilona eine ziemlich anspruchsvolle Image-Kampagne
illustriert, und Ilona hatte mir schon öfters abends in der Küche von
dieser total unkonventionellen und faszinierenden Künstlerin vorgeschwärmt.
Und als ich sie dann auf dem Fest kennengelernt habe, da hatte sie
natürlich auch schon von mir gehört, und wir haben uns auf Anhieb richtig
gut verstanden. Bette sagte, sie hätte da ein Problem, mit dem ich ihr
helfen könnte, beruflich, und ob ich nicht mal vorbeikommen könnte. Wie
gesagt, ich fand sie auch faszinierend, und habe mir das nicht zweimal
sagen lassen, um ihr Haus und Atelier auch mal zu sehen, von dem Ilona
schon paar mal erzählt hatte.
Bette wohnt in einem Haus aus den 1930ern, am Stadtrand. Ich war sofort
fasziniert von ihren Bildern, mehr noch als von dem, was sie für Ilonas
Projekt gemacht hatte. Und von ihrer Art zu leben. So unhektisch, ruhig,
überlegen, erdverbunden, kreativ-chaotisch statt durchorganisiert und
zielbewußt. Bette ist eine Person, die entscheidet gelegentlich spontan,
jetzt für einen Monat in eine andere Stadt zu gehen, weil sich das gerade
richtig anfühlt; und irgend ein Projekt, das ihr das irgendwie finanziert,
findet sie dann auch. Sie hat ein paar ziemlich seltsame Katzen und einen
großen, wüsten Garten; sie setzt sich mit jemandem, der gerade vorbeikommt,
schon mal für Stunden zu einem Tee zusammen oder rekrutiert wildfremde
Besucher für einen kompletten Nachmittag zum Pflaumenentkernen. Sie graust
sich vor nichts, und erschlägt auch schon mal ne Ratte mit der Schippe.
Ich bin einfach da hängengeblieben. Wenn Ilona nicht da war, bin ich
öfter auch mit den Kindern zu Bette und habe die beiden einfach frei im
Garten rumlaufen lassen, das geht da, während ich bei Bette im Atelier
hockte und ihr beim Arbeiten zugeschaut habe. Und ohne die Kinder bin ich
auch immer öfter gekommen. Und irgendwie war es selbstverständlich, daß sie
mich auch gemalt hat: erst lief das nur "Lajos, halt mal deinen Arm so, der
Holz-Fuzzy kann die Pose nicht halten" (kratz, kratz, kratz auf der
Leinwand) "Okay, danke, kannst wieder runternehmen." Dann ging da immer
mehr von mir aus "Nee, mir macht das gar nichts aus" bis zu "Soll ich nicht
vielleicht", und schließlich lag ich dann splitternackt zwischen ihrem
Rhabarber, mit diesen großen Blättern, und sie hat mich gemalt. Wir haben
uns über zwei Monate oder so schrittchenweise gegenseitig provoziert und
verführt, und als wir schließlich angekommen sind, hat Bette gar nicht
gefragt, ob ich mir sicher bin, und ich habe sie nie mit irgendwelchem
Gesülz genervt von wegen meine Frau will nicht mehr, und wir sind nur noch
gute Kumpels. Es war irgendwie außerhalb der Realität.
Und dann hat sie eines Tages entschieden, daß sie jetzt für die nächsten
zwei Monate zu irgendwelchen alten Freunden in die Provence fährt, und kann
ich ihre Katzen füttern; und am Abend, bevor sie losgefahren ist (nix
fliegen, sie ist mit ihrem uralten VW-Bully runtergeknattert) saß ich bei
ihr rum und wurde immer betrübter, und als sie mich gefragt hat, was denn
mit mir los ist, da bin ich etwas aus der Haut gefahren und habe erklärt,
kann sie sich nicht vorstellen, daß ich sie vermisse, schließlich liebe ich
sie ja doch, und so weiter. Es war heraus bevor ich noch wußte, was ich da
sage. Sie war sehr gerührt, aber gefahren ist sie trotzdem.
Wir haben die ganze Zeit immer wieder heimlich telefoniert (natürlich
mußte ich ihr von den Katzen berichten, deshalb hatte ich die Nummer,
offiziell), und festgestellt, wie sehr wir uns vermissen; und als sie wieder
da war, da war aus der Affäre und der gegenseitigen Faszination mehr
geworden.
Sie ist so völlig anders als alle anderen Leute, die ich vorher gekannt
hatte, und irgendwie kann ich bei ihr anders sein, ausprobieren, mich gehen
lassen, unverantwortlich sein. Spontan an einem Nachmittag anfangen, die
ekligen Teppiche aus den Achtzigern rauszureißen, und dann zwei Wochen lang
jeden Abend im ganzen Haus erst das alte Parkett abschleifen und neu
versiegeln, dann nochmal eine Woche lang alle Wände streichen (wenn man eh
schon alles bewegt), und dann hat sie am Wochenende zusammen mit meinen
beiden Kindern noch ein paar Wände bunt gemalt, das war auch total
faszinierend, und ich hockte da, guckte ihnen zu, wie sie mit ihren
Schwämmen und Pinseln wüste Farbkombinationen erschaffen habe, habe ihnen
was zu trinken gebracht und nichts getan und war auch noch ein guter Vater,
weil ich die Kinder hatte, während Ilona zu irgendwas wichtigem weg war,
ich glaube, in Berlin, kann aber auch London gewesen sein.
Versteht mich nicht falsch, ich habe mich nicht wirklich unverstanden
oder vernachlässigt gefühlt, oder war neidisch auf Ilonas Erfolg oder
irgendwas. Ich war einfach nur glücklich mit Bette, weil sie so total
anders ist. Sie ist groß und eckig und etwas zu mager für ihre kräftigen
Knochen. Sie sieht genauso alt aus, wie sie ist, mit mehr grau als blond
in ihrem buschigen, schlichten Pferdeschwanz, mit einfachen Jeans und
T-Shirt, die fast nie ohne Farbflecken sind, und diesen unmöglichen alten
Springerstiefeln oder Birkenstocks oder Clogs, die total von Farbe bedeckt
sind. Sie malt beidhändig, manchmal sogar mit zwei Pinseln gleichzeitig.
Sie muß sich öfters anhören, zu bunt und fröhlich zu malen, zu anbiedernd
an allgemeinen Geschmack, zu gewollt-kindlich, zu sehr wie Wachtmeister
oder Hundertwasser oder Chagall oder Rizzi, und es interessiert sie nicht,
und sie hat immer einen Galeristen, und Aufträge. Große Planung ist nicht.
Irgendwelche Grenzen - ist nicht. Sie erklärt schon mal eiskalt: "He, ich
bin hungrig, kannst du mal einkaufen gehen und was kochen, du kannst das
eh besser als ich", und malt weiter.
Mit genau der selben Spontaneität hat sie dann ein paar ziemlich
eindeutige Bilder, die ganz eindeutig mich zeigten, mit in ihre nächste
Ausstellung getan; das ist eben, wohin sie sich jetzt entwickelt hat,
basta. Ist doch nichts dabei. Mir war klar, daß es keinen Sinn hatte,
jetzt noch von wegen Diskretion anzufangen, und habe die Flucht nach
vorne angetreten und Ilona alles erzählt, bevor sie unversehens das
blanke Hinterteil von ihrem Ehemann bei der Ausstellungseröffnung an der
Wand hängen sieht.
An dem Punkt wurde es dann erstmal ein bißchen dramatisch. Ilona hat
ziemlich geheult, hat gesagt, ihre Kollegen hätten schon was angedeutet,
aber sie hätte es nie glauben wollen, sie hat sich Vorwürfe gemacht, keine
gute Ehefrau gewesen zu sein (Schwachsinn, wirklich, weil ich es war, der
ausgebrochen ist, habe ich ihr wieder und wieder erklärt; ich bin hier der
Böse!), und ich habe so ziemlich die ganze Nacht mit ihr dagesessen, sie
im Arm gehalten und getröstet. Klingt ein bißchen absurd, war aber so.
Gegen Morgen hat sie dann gemeint, jetzt müßten wir uns wohl scheiden
lassen, und ist ohne geschlafen zu haben in die Arbeit gegangen; ich hatte
an dem Tag keinen Dienst und bin zu Bette raus gefahren.
Ilona war etwa eine Woche lang ziemlich unter Schock, und gegen Ende
ausgesprochen angefressen, und hat mich dann angeknurrt, ich wolle mich
doch sicherlich bestimmt unbedingt scheiden lassen, und dann haben wir
eine Weile ähm gesagt und rumgedruckst, und dann stellte sich raus, daß
wir beide keine Scheidung wollen - viel zu viel Aufwand, und Kosten, und
wofür bitte? Ich hatte (und habe) eh nicht vor, Bette zu heiraten, und
genauso wenig sie mich. Der bloße Gedanke ist absurd. Das paßt überhaupt
nicht zu ihr, oder zu der Art Beziehung, die wir haben. Und die Kinder -
sie sind doch Ilona und mir gleichermaßen wichtig, warum sollen wir da
irgendwelche komplizierten rechtlichen Regeln einführen, um das
auszudrücken?
Also haben wir beschlossen, die Sache einfach so zu lassen, wie sie war.
Ilonas Verhältnis zu Bette hat sich natürlich ausgesprochen abgekühlt; sie
ist einfach monumental befangen und kommt auch mit Bettes direkter Art, mit
der Sache umzugehen, nicht recht klar; sie ignoriert das lieber ganz. Ich
weiß nicht, ob sie vielleicht andere Männer hat, und es geht mich auch
nichts an, ob sie vielleicht auf ihren Geschäftsreisen immer mit einem
Kollegen zusammen ist oder in jeder Stadt einen anderen hat; was auch immer,
ich gönne es ihr, ich habe ja angefangen.
Problematisch wird es erst, wenn Ilona sich neu verliebt, und mit dem
anderen dann ein richtiges neues Leben anfangen will; dann müssen wir unser
Provisorium irgendwie blitzartig abwickeln und Regelungen finden, für das
Haus und für die Kinder. Oder auch, wenn sie wegen der Arbeit doch ganz in
eine andere Stadt ziehen will. Das wird schon irgendwann nicht ausbleiben,
und dann wird es doch noch dramatisch, aber erstmal haben wir alle einen
Zustand, mit dem wir irgendwie leben können.
Unsere Verwandten wissen nichts, die machen sich nur unnötig Sorgen;
unsere Freunde schon eher, die kriegen das mit, spätestens die Leute von
der Agentur, die Bette auch kennen, und sehen, daß ich das manchmal bin
auf ihren Bildern. Oder sie treffen Bette und mich irgendwo zusammen, und
natürlich weit und breit keine Ilona.
Unsere Haushaltshilfe, die hält eisern zu Ilona und würde mir eher heute
als morgen die Koffer vor die Tür stellen, wenn Ilona es anordnen würde. Tut
sie nur nicht. Es klingt vielleicht albern, aber die Mißbilligung dieser
Frau, die sich jeden Tag um unsere Kinder und unseren Haushalt kümmert,
nervt irgendwie am meisten von allen Leuten, die Bescheid wissen und
deswegen eine schlechte Meinung von mir haben. Es sägt täglich an meinen
Nerven, aber rauswerfen kann ich sie auch nicht, denn dann wären die
Zwillinge todunglücklich. Davon, daß sie versuchen würde, mich vor den
Kindern schlechtzumachen, ist noch nichts zu merken, also gibt es wirklich
keinen Grund, uns von ihr zu trennen. Das gehört mit zu dem, was ich halt
aushalte, um letztlich das Leben zu haben, das ich haben will.
Lajos, 2004-09-03